Die Unmöglichkeit der Erinnerung. Arno Geigers Es geht uns gut als Persiflage des Generationenromans der Gegenwartsliteratur

Noch deutlicher wird diese Stoßrichtung des Textes, wenn man sich vergegenwärtigt, wie und in welcher Form hier Geschichte und Vergangenheit überhaupt figurieren. Differenziert man einigermaßen trennscharf, so werden im Roman zwei Formen des Zugriffs auf die Vergangenheit geschildert, die einander d...

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Bibliographische Detailangaben
Veröffentlicht in:German studies review 2013-02, Vol.36 (1), p.79
1. Verfasser: Reidy, Julian
Format: Artikel
Sprache:eng
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Online-Zugang:Volltext
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Beschreibung
Zusammenfassung:Noch deutlicher wird diese Stoßrichtung des Textes, wenn man sich vergegenwärtigt, wie und in welcher Form hier Geschichte und Vergangenheit überhaupt figurieren. Differenziert man einigermaßen trennscharf, so werden im Roman zwei Formen des Zugriffs auf die Vergangenheit geschildert, die einander diametral entgegenstehen. Da sind zunächst Philipps "Fantasien"59 zu Beginn des Romans, in denen er sich eine vollkommen fiktive Genealogie ausdenkt. Diese phantasmatischen "Lebensläufe" (52) kontrastieren mit den bereits erwähnten Vergangenheitskapiteln, in denen die faktuale Familiengeschichte stichprobenartig aus der Perspektive einzelner Verwandter Philipps geschildert wird. Wenn nun die Interpreten in [Bezug] auf Philipps "entw[o]rfen[e]" (52) Familiengeschichte stets nur von "Fantasien, . . . genealogischen Phantasien",60 einem "offensiv fiktive[n] Szenario"61 oder einfach "eigene[n] Geschichten"62 sprechen, so übersehen sie den eigentlichen Status von Philipps Reflexionen, den der Text auf der lexikalischen Ebene keineswegs verhehlt. Konkret fantasiert [Philipp Erlach] die wirre Geschichte eines "Stanislaus Xaver Sterk, [eines] Großvaters mit nur schwer bestimmbarer Anzahl an Ur-Präfixen," der die "zweite[] Türkenbelagerung . . . in Diensten der kaiserlichen Armee" miterlebt und dem von den Feinden "eine Kanonenkugel . . . in den Bauch eingenäht" wird, und eines "Vikar[s] . . . Stanislaus Baptist Sterk, [der] wegen einer nützlichen Erfindung 1847" (53, Hervorhebung im Original) beim Kaiser vorsprechen darf. Der Text befindet es für nötig, mehrfach zu betonen, dass beide ausgedachten Sterks "Frauenheld[en]" beziehungsweise "Weiberhelden" gewesen seien, denn: "[I]n Familienromanen [wird] von fernen Vorfahren nie viel anderes bekannt . . . als daß sie große Weiberhelden waren" (53, Hervorhebung nicht im Original). Die Rede vom "Familienroman" im "Familienroman" kann kaum ein Zufall sein: Philipps Geschichten über die in sexualibus so erfolgreichen Vorfahren sind keineswegs unschuldige "Fantasien," sondern ergeben (in diesem nota bene in Wien spielenden Text) einen "Familienroman" im Sinne Sigmund Freuds. In dessen psychoanalytischer Theorie bilden die "Familienromane der Neurotiker" bekanntlich eine "Entwicklungsstufe [der] beginnenden Entfremdung von den Eltern".63 In "Tagträume[n]" verschafftsich das Kind die "Erfüllung von Wünschen" und eine "Korrektur des Lebens," und zwar geht es kon kret um "erotische" und "ehrgeizige" Wünsche oder "Ziele":64 Durch die
ISSN:0149-7952
2164-8646