Vor dem Gesetz sind alle Staatsbürger gleich?: Rechtsgrundsatz und Gesetzesfiktion in Kafkas Türhüter-Legende

Zusammenfassung In diesem Aufsatz wird die These vertreten, dass in Kafkas Türhüter-Legende der Begriff ›Gesetz‹ nicht nur, wie man es häufig in der jüngeren Forschung findet, theologisch, sondern auch juristisch gelesen werden kann (I.). Die Titel-Formulierung »Vor dem Gesetz« wird als Aufruf des i...

Ausführliche Beschreibung

Gespeichert in:
Bibliographische Detailangaben
Veröffentlicht in:Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2016-09, Vol.90 (3), p.415-434
1. Verfasser: Bergengruen, Maximilian
Format: Artikel
Sprache:ger
Schlagworte:
Online-Zugang:Volltext
Tags: Tag hinzufügen
Keine Tags, Fügen Sie den ersten Tag hinzu!
Beschreibung
Zusammenfassung:Zusammenfassung In diesem Aufsatz wird die These vertreten, dass in Kafkas Türhüter-Legende der Begriff ›Gesetz‹ nicht nur, wie man es häufig in der jüngeren Forschung findet, theologisch, sondern auch juristisch gelesen werden kann (I.). Die Titel-Formulierung »Vor dem Gesetz« wird als Aufruf des im zeitgenössischen österreichischen Verfassungsrecht verankerten Gleichheitsgrundsatzes »Vor dem Gesetze sind alle Staatsbürger gleich« verstanden. Dieser Aufruf erfolgt mit einer Neu- bzw. Wiederbetonung der ursprünglich räumlichen Bedeutung der zu Kafkas Zeit grammatikalisiert verwandten Präposition ›vor‹, die ihren sprachlichen Ursprung im Vortreten des Menschen vor den Richterstuhl hat. Dieser sprachgeschichtliche Umstand erlaubt es dem Türhüter implizit zu argumentieren, dass die Formulierung ›Vor dem Gesetz‹ aus dem Gleichheitsgrundsatz immer auch den Richter und das Gericht mit auf den Plan ruft, das sich, anders als es der Mann vom Lande erwartet hat, zwischen ihn und das Gesetz, ja anstelle des Gesetzes stellt (II.). Der Kaplan erzählt Josef K. diese Geschichte, weil er damit dessen Täuschung in Bezug auf das Gericht aufzeigen möchte: K. geht nämlich davon aus, dass sich der Gleichheitsgrundsatz auch auf das Verhältnis von Angeklagtem und Gericht beziehen lässt. Tritt dieses Gericht jedoch anstelle des Gesetzes, kann es nicht zugleich Gegenstand der durch das Gesetz garantierten Gleichheit sein, sondern entzieht sich ihr vielmehr durch seine Souveränität; mit dem Effekt, dass der Gleichheitsgrundsatz aus sich heraus ad absurdum geführt wird (III.). Im Zuge dieser Ersetzung bzw. Verstellung durch das Gericht erweist sich das Gesetz in Kafkas Türhüter-Legende, so die abschließende These, als eine fictio legis , verstanden im radikalen Sinne eines Genitivus objectivus (IV.).
ISSN:0012-0936
2365-9521
DOI:10.1007/s41245-016-0022-y