Zur Theorie des Gerüchts

Zusammenfassung Gerüchte gelten als Grenzgebiete wissenschaftlicher Forschung. Die fehlende Verbürgtheit der mitgeteilten Aussagen und die Ungewissheit über ihre weitere Veränderung nach Inhalt, Umfang, Richtung und Geschwindigkeit sowie ihre mögliche negative Wirkung umgeben Gerüchte mit einer psyc...

Ausführliche Beschreibung

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Bibliographische Detailangaben
Veröffentlicht in:Publizistik 2009, Vol.54 (1), p.15-42
1. Verfasser: Merten, Klaus
Format: Artikel
Sprache:ger
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Beschreibung
Zusammenfassung:Zusammenfassung Gerüchte gelten als Grenzgebiete wissenschaftlicher Forschung. Die fehlende Verbürgtheit der mitgeteilten Aussagen und die Ungewissheit über ihre weitere Veränderung nach Inhalt, Umfang, Richtung und Geschwindigkeit sowie ihre mögliche negative Wirkung umgeben Gerüchte mit einer psychopathologischen Aura („Geisteskrankheit des gesellschaftlichen Organismus“), die zwar ihre Verbreitung, nicht aber ihre Erforschung begünstigt. Trotz der massiven Abdeckung durch massenmediale Berichterstattung hat sich die Zahl der Gerüchte nicht verringert, sondern, vor allem bedingt durch das Internet, stark vergrößert, so dass ihr Einfluss und ihre Wirkung ganz erheblich zugenommen haben. Der folgende Beitrag skizziert Entstehung und Verbreitung von Gerüchten unter systemischer Perspektive und begreift das Gerücht als einen Prozess kollektiver sozialer Selbsthilfe, der stets dann als fortgesetzte Kommunikation aktualisiert wird, wenn in einer Gruppe, einer Population oder in der Gesellschaft Defekte an grundlegenden sozialen Strukturen (Normen, Werte, Kommunikationsbarrieren, unterdefinierte Situationen) auftreten oder aufzutreten scheinen. Gerüchte, einmal katalysiert, verselbständigen sich und betreiben, wie alle Kommunikationssysteme, vornehmlich ihre Selbsterhaltung (latent pattern maintenance). Dabei wird die zentrale Botschaft des Gerüchts relativ konstant gehalten, und dies in einer Reichweite, die von der Gleichheit von Interessen und Problemlagen in der jeweiligen Population begrenzt wird. Daraus lässt sich ableiten, 1) dass und warum Gerüchte sich an Situationen anpassen und ihre Inhalte ändern können, 2) dass Gerüchte prinzipiell eine unendliche Lebensdauer haben (können), 3) dass deren Dementi in der Regel stark kontraproduktiv ausfällt, 4) dass und warum bei der Gerüchtverbreitung oft stark paradoxe Effekte auftreten und 5) dass der Wahrheitsgehalt von Gerüchten grundsätzlich indifferent gegen deren Entstehung und Verbreitung ist.
ISSN:0033-4006
1862-2569
DOI:10.1007/s11616-009-0028-y